Die Welt wird zunehmend multipolar. Damit Europa geopolitisch nicht zurückfällt, muss es Interessen souverän vertreten. Und das geht nur mit Deutschland und Frankreich.

Die Vereinigten Staaten werden sich irgendwann Asien zuwenden, Europa muss dann mehr oder weniger allein zurechtkommen. Zeit für ein souveränes Europa, schreiben unsere Gastautoren Landry Charrier, Forscher am Institut Sirice an der Sorbonne (Paris), und Hans-Dieter Heumann, Diplomat a.D. und ehemaliger Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.

Die multipolare Welt ist in Bewegung. Wann gibt es schon mal eine so dichte Abfolge internationaler Treffen, von der chinesisch dominierten Schanghai-Organisation Anfang Mai über das Brics-Treffen im August in Pretoria bis hin zum multinationalen G20 im September in Indien. Die Zentren dieser multipolaren Welt finden sich in den verschiedensten Koalitionen wieder. Sie sind flexibel, dynamisch, schaffen Abhängigkeiten und Koalitionen, oft auf sehr unterschiedliche Art und Weise.

Europa hat in diesem Ordnungskampf seinen Platz noch nicht gefunden. Es kann sich nicht damit begnügen, sein Verhältnis zu den USA oder China zu definieren. Es hat eigene Interessen und sollte diese wahrnehmen. Nichts anderes bedeutet europäische Souveränität. Sie ist eine Notwendigkeit. Der Staatsbesuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macrons in Berlin bietet eine gute Gelegenheit, das Thema wieder zu besetzen. Die Voraussetzungen dafür sind gut.

Der Besuch war lange geplant und ist keine Reaktion auf die deutsch-französischen Differenzen der letzten Monate. Diese wurden schon beim Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock im Mai in Paris sowie beim Treffen Macrons mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Potsdam Anfang Juni behandelt. Dabei ging es um die Zukunft von Mehrheitsentscheidungen in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Europäische Verteidigung und Rüstungsindustrie. Deutschland und Frankreich nehmen sich der wohl wichtigsten Frage der Europäischen Union an: Wie ist es um ihre Handlungsfähigkeit, ihre Souveränität, bestellt, angesichts der beiden größten Herausforderungen dieser Zeit, nämlich Russland und China?

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Polen fällt aus

Die große Desillusionierung über Russland legt Deutschland und Frankreich auch nahe, den Dialog mit Mittel- und Osteuropa zu suchen. Das 1991 gegründete Weimarer Dreieck sah Polen dafür als wichtigsten Partner vor. Allerdings bietet der Kurs, den der rechtskonservative Ministerpräsident Mateusz Morawiecki aktuell fährt, für einen entsprechenden Dialog wenig Möglichkeiten: Sich als Gegengewicht zu den beiden größten Volkswirtschaften sowie bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedern zu positionieren, ist zum Scheitern verurteilt. Ob Morawiecki es will oder nicht: Die tatsächlichen Machtzentren liegen nach wie vor in Paris und Berlin. Eine Verschiebung von West nach Ost ist nicht zu erkennen.

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Jeder weiß, dass die USA sich in absehbarer Zeit aus Europa zurückziehen werden, um sich der strategischen Konkurrenz zu China, der “umfassendste(n) und ernsthafteste(n) Herausforderung für die nationale Sicherheit der USA” (Pentagon-Chef Lloyd Austin), verstärkt zuzuwenden. Europa muss sich darauf vorbereiten und das kann nur funktionieren, wenn alle am gleichen Strang ziehen.

Dabei geht es nicht darum, sich von den USA zu entkoppeln – das wäre töricht und widerspräche unseren vitalen Interessen. Es geht vielmehr darum, ein verlässlicher Partner zu sein. Bei der europäischen Souveränität wird es auf Deutschland und Frankreich ankommen. Eine Alternative ist nicht erkennbar.

  • Oliver
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    1 year ago

    Auch wenn ich die grundlegende Positionen hinter den Forderungen teile, so weiß ich nicht recht, wo man mit Begriff des souveränen Europas hin möchte. Selbst wenn das deutsche Außenministerium sich wieder einkriegen würde und die sinophoben Ausfälle unterlässt - was wäre das denn dann bitte für ein souveränes Europa? Dabei müsste man sich doch nicht nur über die Opposition seitens Polen und Ungarn Gedanken machen, sondern die Frage, wen man mit einer französisch-deutschen Führung überhaupt auf seine Seite ziehen kann.

    Jeder weiß, dass die USA sich in absehbarer Zeit aus Europa zurückziehen werden

    Das konnte man so vielleicht 2021 noch mutmaßen. 2023 ist das schon beinahe eine gewagte Aussage.

    • Der Würger@feddit.de
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      1 year ago

      Das konnte man so vielleicht 2021 noch mutmaßen. 2023 ist das schon beinahe eine gewagte Aussage.

      Die USA wird sicher nicht direkt abziehen. Aber die anhaltenden Forderungen zur Erhöhung der Europäischen Militärausgaben laufen doch sicher auch in die Richtung hier weniger Ressourcen einsetzen zu müssen.